Monatsimpuls Oktober 2020

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Immer nur einen Schritt weiter

Wer derzeit in das Gepolter von Wahlkämpferinnen und Wahlkämpfern hineinhört, könnte den Eindruck gewinnen, es gäbe auf dieser Welt ausschließlich Hellseherinnen und Hellseher, die über Jahre und Jahrzehnte genau wissen, welchen Weg das Geschehen des Lebens nehmen wird. Interessant dabei erscheint mir allerdings, dass jede und jeder von ihnen etwas ganz anderes hellsieht. Während zum Beispiel der eine ganz hell vor sich sieht, dass, würde er nicht gewählt, ein zerstörerischer Sozialismus eine ganze Nation ins Chaos und in den Untergang stürzen würde, sieht der andere genauso hell vor sich, wie ein Land durch Spaltung der Menschen genauso im Chaos und Untergang enden wird. Beide nehmen für sich in Anspruch, ausschließlich sie könnten die Rettung vor diesem Untergang sein. Möglicherweise stimmt ja das eine oder andere aus der hellseherischen Fähigkeit entstandene Element. Aber niemand kann einen Allmachtanspruch für sich vereinnahmen.

Im nächsten Augenblick kann das Leben ganz anders aussehen. Corona mit all seinen Auswirkungen hat dies gezeigt. Was wir vorauszuschauen und hellzusehen glauben, kann sich durch ein winziges Ereignis genau ins Gegenteil verkehren oder sich gar pulverisieren. Was eben noch galt, hat noch nicht mal den geglaubten Haltbarkeitswert erreicht; wie Milch, die durch eine kurze schwüle Wetterlage weit vor dem Haltbarkeitsdatum unbrauchbar geworden ist.

Dies alles macht Zukunftsplanung, Strategieentwicklungen oder anders nicht unnötig, weil ja sowieso alles anders kommen könnte. Aber es ändert in der Zukunftsplanung die innere Haltung zu dem, was wir planen. Wir stellen uns darauf ein, dass der Lebensweg nicht gerade ist. Wir werden aufmerksam, um die Abzweigungen des Lebens wahrzunehmen und den Verlauf unseres Lebens dem sich neu ergebenden Weg anzupassen. Wir können innerlich gelassener und anderen gegenüber sanfter werden, weil wir spüren, es hängt nicht alles von uns alleine ab. Wir können uns flexibler auf Neues einstellen. Ja, wir können darin etwas ganz Spannendes, Unbekanntes und Erhellendes erkennen, das uns neue Welten erschließt – nicht nur als Kind, dass gerade die Welt zu entdecken beginnt, sondern genauso als Hundertjährige. Vielleicht können wir dabei auch spüren, wie gut es ist, unsere Vorstellungen vom Leben, unseren Willen, unsere Ziele nicht zum Maß aller Dinge zu machen, sondern dass die Wendungen des Lebens über uns hinaus auf jemanden deuten, der tatsächlich den Überblick hat und der uns begleitet. Der uns anbietet, ihm zu vertrauen, dass er aus seinem Überblick immer wieder neue Wege des Lebens eröffnet. Dass wir spüren: Ich gebe mein Bestes und bringe das ein in das Leben, was ich kann und wofür ich Gaben habe. Den Rest tut der, der den Überblick hat, einfach dazu. Und dann passt es.

Ich habe in den Jahren in der Krankenhausseelsorge bei der Begegnung mit Patientinnen und Patienten muslimischen Glaubens immer wieder erleben dürfen, dass sie einfach nach oben schauten und automatisch die geöffneten Hände als Gebetshaltung dem Blick nach oben folgen ließen und nur schlicht sagten: „Allah“. Mehr Worte mussten es nicht sein. Damit war alles gesagt: Unser Leben ist bei dem gut aufgehoben, der den Überblick hat. Ich muss nicht alles in der Hand haben. Wer eine solche vertrauende Haltung für sich erleben darf, trägt ein unfassbares Geschenk in sich und unterliegt nicht dem Wahn von Allmachtphantasien. Der hat Abschied genommen von der Vorstellung, nur einzig und allein das Leben regeln und heilen zu können. Der hat einen wachen freien neugierigen Blick für das, was als nächstes eine Wendung des Lebensweges an Spannendem und Neuem mit sich bringen wird.

So wird jeder Moment des Lebens zu einem Abschiednehmen von dem, was gerade ist, um sich neu auszurichten auf den nächsten Schritt im Leben – denn nur dieser zählt und kann gegangen werden im Vertrauen auf die Begleitung dessen, der den Überblick hat. Und schon hebt sich der Fuß vom Boden ab und verlässt den Ort, den er gerade noch berührte. Er lässt ihn zurück, um einen kurzen Moment mit dem nächsten Schritt einen anderen Ort zu berühren, um auch diesen doch sofort wieder für den nächsten Schritt zu verlassen.

So wird jeder Moment des Lebens zu einem Abschiednehmen von dem, was gerade ist, um sich neu auszurichten auf den nächsten Schritt im Leben – denn nur dieser zählt und kann gegangen werden im Vertrauen auf die Begleitung dessen, der den Überblick hat. Und schon hebt sich der Fuß vom Boden ab und verlässt den Ort, den er gerade noch berührte. Er lässt ihn zurück, um einen kurzen Moment mit dem nächsten Schritt einen anderen Ort zu berühren, um auch diesen doch sofort wieder für den nächsten Schritt zu verlassen.

 Bernhard Brantzen