Monatsimpuls März 2020

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Ich bin da

Ich schließe die Wohnungstür auf. Nicht gleich sehe oder höre ich jemanden in der Wohnung und rufe in die Stille hinein: „Hallo, ist jemand in der Wohnung? Ich bin jetzt da!“ Freudig kommt eine Stimme aus einem der Zimmer: „Ja, das ist ja schön. Ich muss dir gleich mal was erzählen, was mir heute passiert ist!“ Schnell antworte ich: “Ja, gut. Ich mach mich rasch noch etwas frisch“. Ich schließe mich im Badezimmer ein und setze mich auf den Rand der Badewanne. Nein, jetzt nicht noch eine Geschichte von jemanden, schießt es mir durch den Kopf. In schneller Reihenfolge laufen die Bilder und Ereignisse meines durchlebten Tages an mir vorüber. Ich bin in Gedanken in meinem Auto, bei dem Kind, das mir fast ins Auto gelaufen wäre; der wütenden Mutter, die mir etwas nachschreit, als ich weiterfahre. Die Abläufe an meinem Arbeitsplatz und die Begegnungen mit unterschiedlichen Menschen. Eines nach dem anderen steht mir vor Augen. Ich bin noch überall, nur nicht hier in meiner, unserer Wohnung. Schon gar nicht bei den Menschen, mit denen ich hier Tag für Tag zusammenlebe und die von mir erwarten, dass wenn ich schon zuhause bin, ich auch für sie da bin. Dass sie auch bei mir spüren: „Ich bin da – ganz da - ganz für euch da.“

Welch eine Herausforderung, der ich kaum gewachsen bin: Ich bin da. Wenn ich dies zu jemanden sage, dann weckt dies auch Erwartungen an mich: Ich habe Zeit, ich bin jetzt nur für dich da. Ich wende mich dir zu. Ich schaue dir in die Augen, höre dir zu und versuche dich zu verstehen. Ich lasse dich aussprechen und falle dir nicht ins Wort, sage nur das, was passt und notwendig ist. Alles darfst du sagen, was deine Gedanken, dein Herz, deine Seele bewegt. Ich schweige mit dir, wenn Schweigen angesagt ist und halte das Schweigen auch mit dir aus. Ich lache mit dir, wenn der Zeitpunkt des Lachens gekommen ist und ich weine mit dir, wenn es Zeit zum Weinen ist. Ich signalisiere: Was jetzt ist, nur das ist mir wichtig – du bist mir wichtig – ganz und gar wichtig.

Genauso aber ist es auch eine Herausforderung an jemanden, von dem oder der ich mir wünsche, dass er oder sie ganz für mich da ist. Du bist für mich da – ich brauche mich nicht mehr zu verstellen, kann alles sagen, all deine Aufmerksamkeit mir gegenüber empfinde ich.

Während ich so auf dem Rand der Badewanne sitzend von draußen einen Ruf höre: „Schön, dass du da bist, ich habe schon das Teewasser aufgesetzt!“, denke ich an eine der größten Sehnsüchte des Menschen, dass jemand für ihn oder sie einfach da ist. Nicht immer, aber wenn, dann ganz. Diese Sehnsucht trage auch ich in mir, Augenblicke zu haben, in denen jemand ganz für mich da ist – gerade dann, wenn ich es am nötigsten brauche. Wie oft haben wir aber schon die Erfahrung gemacht: Genau in diesen Augenblicken ist niemand da und ich muss irgendwie alleine zurechtkommen.

Mir kommt die Geschichte des Moses im Alten Testament der Bibel in den Sinn, der mitten in seiner Arbeit plötzlich von Gott aus einem brennenden Dornbusch angesprochen wird. Moses fragt die Stimme im Dornbusch: „Was soll ich den Menschen sagen, wer du bist?“ Und Gott antwortet ganz schlicht: „Sage ihnen, mein Name ist Jahwe – dass bedeutet: Ich bin da – ich bin ganz da – ich bin ganz für jede und jeden von euch da – zu jeder Zeit und in jeder Sekunde!“ Welch eine ungeheure Zusage: All das, was „Ich bin da“ bedeutet, sagt jemand, sagt Gott, ein für alle Mal für jede Zeit und jede Sekunde in vollem Umfange jedem Menschen zu. Er sagt es auch für Momente des Lebens zu, wo wir es nicht erkennen und spüren, ja wo wir fragen: „Wo bist du denn jetzt?“ Gott gibt damit das Signal: „Gleich was geschieht, gleich wie es dir geht, wo immer du gerade bist, erinnere dich meiner Zusage: Ich bin da – für dich da - ganz – auch wenn du es nicht immer gleich spürst.“

Ich schließe die Badezimmertür auf und mir wird bewusst, so umfänglich wird es mir niemals gelingen können, für einen Menschen da zu sein. Aber es kann mir ein Leitfaden sein, ein hilfreiches Geländer, an dem ich mich festhalten kann. Und während ich aus der Badezimmertür trete, sage ich: „Jetzt bin ich da – für dich da!“ und ich höre mit aufgesperrten Ohren und Augen und offenem Herzen die sprudelnde Erzählung über die Erlebnisse des vergangenen Tages – eine Tasse Tee in der Hand.

 

Bernhard Brantzen, kath. Diakon
Klinikseelsorge Offenbach